Blauwestentour durch Reinickendorf 2019-05-05

STG-Schild

Ein Teilnehmer beschreibt seine Eindrücke bei der Kieztour am 5. Mai 2019

In Reizwäsche-Weste Autofahrer reizen

Es ist Sonntag der 5. Mai 2019. Ich stehe vor der Frage, bei welcher Veranstaltung soll ich heute mitfahren: Die Klassiker-Kieztour des Reinickendorfer ADFCs oder doch lieber die Fahrradrallye1 der Sportvereine wagen. Angesichts der kühlen Temperatur entscheide ich mich für die kürzere Klassiker-Variante am frühen Nachmittag. Ich fahre also völlig entspannt zur S-Bahn, die mich augenblicklich in aufsteigende Nervosität versetzt: Totalausfall! “Verlass dich nicht auf die S-Bahn, sonst bist du verlassen” denke ich mir so. Mit einer halben Stunde Karenzzeit ausgestattet, trete ich mich mit meinem Lieblingsfortbewegungsmittel im Affenzahn zum Gesundbrunnen. Von dort geht es mit der U-Bahn weiter zum Rathaus Reinickendorf.

Ich habe mich extra dick eingepackt, weil ich von einer gemütlichen Tour bei Nasentropfkälte ausging. Das wird mir nun zum Verhängnis. Ich erreiche mein Ziel noch gerade rechtzeitig, allerdings im Zustand der maximalen Durchgeschwitztheit.

Die Organisatoren statten mich mit einer schicken blauen Reizwäsche-Warnweste aus, auch mein Fahrrad wird verschönt: Ein
Flatterband mit dem Aufdruck "#mehrplatzfürsrad" wird am Gepäckträger befestigt. Damit markieren sie, wer sich schon in die Anmeldeliste eintrug. „Bitte im Verbund zusammenbleiben“, erhalten wir ernste wie auch ermahnende Verhaltensanweisungen. „Langsam an die Räder“, lautet das Kommando, mit dem dann 43 Teilnehmer losfahren und sogleich eine schwer zu übersehende Kolonne für Autofahrer bilden.

Es geht rauf auf die Bundesstraße B962 . Auf dieser wichtigen Berliner Nord-Süd-Achse gibt es in diesem Abschnitt nur einen lächerlich schmalen Radweg. Den benutzen wir jedoch nicht, sondern wir machen von unserem Recht Gebrauch, als Verband auf der Straße zu radeln und eine komplette Fahrbahn für uns in Beschlag zu nehmen. Die Autofahrer hinter uns müssen sich etwas in Geduld üben was die meisten von ihnen gelassen hinnehmen, einige wenige jedoch zu riskanten Überholmanövern verleitet.

Wir erreichen im äußerst moderaten Tempo unser 1. Etappenziel, den “Wetterpilz”3 in Frohnau. Hier warten schon die ADFC-Ortsgruppen aus Birkenwerder und Hohen Neuendorf auf uns. Zur Begrüßung stecken sie uns Stadtpläne ihrer Gemeinden zu. Dann wird eine weitausholende Begrüßungsrede gehalten, in der die Gemeinsamkeiten der ADFC-Gruppen betont werden. Das verleiht der Veranstaltung einen offiziellen Charakter.

Nicht alle Wetterpilz-Pilger passen unters Pilzdach, der sich an einem Verkehrsknotenpunkt befindet. Entsprechend stark befahren sind die Straßen und entsprechend laut ist der Verkehrslärm ringsum, sodass man von den Reden nur etwas hört, wenn man den Rednern ganz nahe kommt. „Es geht uns nicht darum, Behörden anzufeinden oder Regelverstöße der Autofahrer anzuprangern – wir kämpfen für eine Verbesserung der Fahrradwege.“ Auf der B96 zu fahren, könne man keinem Radfahrenden zumuten.

Wir fahren den gleichen Weg zurück. Im Verband zu fahren macht einfach Spaß, sofern man die nicht ungefährlichen und völlig überflüssigen Überholmanöver einiger wildgewordener Automobilisten außer acht läßt. Reinickendorf ist eben ein Autofahrerbezirk. Zur Freude der uns folgenden Autofahrer legen wir nach wenigen Kilometern wieder einen Zwischenstopp ein; von einem “Korker” werden wir souverän von der Straße auf den Bürgersteig rausgewunken.

Hier erhalten wir Informationen über die zukünftige Radverkehrsführung auf der B96. Eine neuartige Radspur in Mittellage ist geplant.

Beim nächsten Stopp an der Roedernallee plädiert ein anwesender oppositioneller Lokalpolitiker dafür, lieber eine Autospur „sterben zu lassen“. Allerdings könne dies angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Bezirksverordnetenversammlung noch lange dauern. Bei vielen Reinickendorfern ist halt der Traum von der autogerechten Stadt längst noch nicht ausgeträumt und er spukt weiter in ihren Köpfen umher.

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wir verlassen West-Berlin

In gewohnter Manier, also demonstrativ von unserem Recht zur Fahrbahnnutzung Gebrauch machend, bleibt sich die Gruppe bis zum Ende der Kieztour treu. Unterbrochen nur von einem erneuten Radverkehrsplanungsvermittlungsversuch. Sodann fallen wir als Kaffee-und-Kuchen-Flashmob ins Café am Schäfersee4 ein.

Filterkaffee: 1,50 Euro Mini-Kuchenstück: 2,00 Euro patzige Laune der Chefin: kostenfrei

Es erfolgt eine Vollversorgung mit Prospekten.

Wir drehen noch eine abschließende Runde um den ruhig daliegenden Schäfersee. Ohne Fluglärm hätte dieser Platz tatsächlich das Zeug zu einem idyllischen Ort. Nach der vorbildlich-radfahrerfreundlichen Aroser Allee folgt nach gut drei Stunden eine Trennung ohne Tränen. Aus mit Applaus. „Toll, dass ihr so lange durchgehalten habt.“

Aufgrund eines akuten Geschwindigkeitsdefizit-Syndroms bei den Teilnehmern, fährt danach jeder sehr schnell seiner Wege.


http://www.fahrrad-rallye.com/

https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesstraße_96

http://wetterpilze.de/FrohnauB96.shtml

http://www.cafe-am-schaefersee.com/index.html