Offener Brief zur Pressemitteilung des Bezirksamtes betr. „Pop Up Radwege“

Anläßlich der Demonstration am 23. Mai 2020 in der Berliner Straße in Tegel, auf der mehr Platz für Radelnde und zu Fuß Gehende gefordert wurde, hatte die Stadträtin Frau Schultze-Berndt eine Pressemitteilung herausgegeben. Darin listete sie Gründe auf, weswegen dem Radverkehr in Reinickendorf nicht mehr Raum zugestanden werden könne und weswegen die Einrichtung temporärer Radwege angeblich nicht möglich sei.

In Erwiderung auf diese PM haben der VCD-Nordost und B90/dieGrünen einen offenen Brief an die Stadträtin verfasst, der hier nachfolgend widergegeben wird und von vielen Gruppierungen des öffentlichen Lebens mitgetragen wird; darunter auch vom ADFC-Reinickendorf.

Offener Brief

zur Pressemitteilung des Bezirksamtes betr. „Pop Up Radwege“

An:

katrin.schultze-berndt@reinickendorf.berlin.de

Betr.: Pressemitteilung Nr. 9368 vom 22.05.2020: www.berlin.de/bareinickendorf/aktuelles/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.936827.php

Berlin-Reinickendorf, 8.6.2020

Sehr geehrte Frau Schultze-Berndt,

In Ihrer oben genannten Pressemitteilung haben wir einerseits mit Freude gelesen, dass Sie das Ziel, die Situation für Radfahrer und Fußgänger in Reinickendorf deutlich zu verbessern, voll und ganz teilen. Andererseits sind wir irritiert, dass Sie dieses Ziel ausgerechnet dadurch erreichen wollen, diesen schwächeren Verkehrsteilnehmern an zentralen Orten des Bezirks ausdrücklich keine Flächen für eine sichere Fortbewegung unter Einhaltung des Abstandsgebots zuweisen zu wollen. Diese beiden Aussagen stehen für uns in einem klaren Widerspruch zueinander.

Sie sagen: „es ist eine wichtige Aufgabe, nicht nur für jüngere und jung gebliebene, sportliche Personen Mobilität und Sicherheit zu gewährleisten.“

Wir stellen fest: Momentan trauen sich nur unerschrockene und geübte, sportliche Personen mit dem Fahrrad auf die Berliner Straße in Tegel. Gerade um wirklich allen Altersgruppen der Bevölkerung Mobilität und Sicherheit zu gewährleisten, braucht es sichere Radverkehrsanlagen.

Sie sagen: „In einem Flächenbezirk wie Reinickendorf braucht es einen funktionierenden Angebots-Mix.“

Wir stellen fest: Genau um diesen Angebots-Mix geht es uns. Es braucht Platz sowohl für Fußverkehr als auch für Fahrräder als auch für diejenigen, die auf das Kfz wirklich angewiesen sind. Das ist zurzeit nicht gegeben, deshalb fordern wir es ein.

Sie sagen: „Wir aber wollen in Reinickendorf nicht konfrontativ einzelne Verkehrsteilnehmer ausgrenzen, sondern fördern Ideen, die auf ein besseres Miteinander abzielen.“

Wir stellen fest: Derzeit werden Fahrradfahrer*innen an der Berliner Straße ausgegrenzt. Dies geschieht offenbar bewusst und gewollt, wie ihrer PM zu entnehmen ist. Daher wird diese Ausgrenzung seitens der Betroffenen auch verständlicherweise als in hohem Maße konfrontativ wahrgenommen. Wir wollen stattdessen zu einem Miteinander, dass tatsächlich allen Verkehrsteilnehmer*innen Platz einräumt und genau deshalb auch niemand ausgrenzt.

Sie sagen: „Die Einrichtung temporärer Radverkehrsanlagen („Pop-UpRadwege“) sowie ausreichend Platz für den Fußverkehr scheitern an dem nur begrenzt zur Verfügung stehenden Raum auf Straße und Gehwegen.“

Wir stellen fest: Die begrenzte Fläche schreit geradezu nach einer gerechteren Verteilung für alle Verkehrsteilnehmer*innen. Aufgrund der lebensgefährlichen Situation auf der Fahrbahn verlagert sich derzeit ein Teil des Radverkehrs, insbesondere weniger geübte, auf den Gehweg, was dort den wenigen Platz noch weiter verengt. Gerade der Fußverkehr aber braucht dringend ausreichend Platz. Denn die Einzelhandelsgeschäfte können in der Regel nur zu Fuß betreten werden.

Sie sagen: „Der Fahrzeugverkehr hat sich mittlerweile wieder normalisiert und vielerorts durch die zurückgegangene Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln aufgrund der Corona-Pandemie sogar gesteigert.“

Wir stellen fest: Die Steigerung gilt nach andernorts vorhandenen Erhebungen insbesondere für den Fahrradverkehr (Fahrräder sind auch Fahrzeuge), was zu einer wesentlich effizienteren Nutzung begrenzter Flächen führt. Der Kfz-Verkehr hat sich dagegen i.d.R. nicht gesteigert. Auch für die Berliner Straße konnten wir das in den vergangenen zwei Wochen nicht beobachten.

Sie sagen: „Die Wegnahme einer Fahrspur für Pop-Up-Radwege auf den Hauptverkehrsstraßen würde deren Leistungsfähigkeit einschränken und damit auch den öffentlichen Nahverkehr (Bus) stark beeinträchtigen.“

Wir stellen fest: Die Umwandlung nur einer von derzeit drei Richtungsfahrspuren für den Kfz Verkehr in eine Fahrradspur würde einen sicheren Radverkehr für alle überhaupt erst möglich machen.

In der Berliner Straße stehen derzeit pro Richtung zur Verfügung: für Fußverkehr eine für Begegnungen zu schmale Gehbahn (ca 1,5m), keine Radverkehrsanlage (0,0 m), für Kfz drei Fahrbahnen (ca 10 m). Von einem Angebotsmix für alle (dieses Ziel teilen wir ausdrücklich) kann so keine Rede sein.

Der ÖPNV fährt in der Berliner Straße vor allem unterirdisch als UBahn. Bis Brunowstr. / Grußdorfstr. fährt nur eine Buslinie (133). Im eigentlichen Hotspot zwischen Grußdorfstr. und Bernstorffstr. gibt es gar keine BVG Buslinie. Im Bereich der großen Bushaltestelle ist die Busspur auch für Radverkehr ausreichend.

Vor allem aber: Uns geht es um Verkehrssicherheit! Die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer*innen ist, auch nach den schon immer geltenden Ausführungsvorschriften, vorrangig vor der vermeintlichen Flüssigkeit des (Auto-) Verkehrs. Das sollte auch in Reinickendorf so gehandhabt werden.

Sie sagen: „Die vorgeschlagene Berliner Straße in Tegel wird für die Zeit der Bauarbeiten an der U 6 und der S 25 als Entlastung in der aktuellen Breite dringend benötigt.“

Wir stellen fest: Eine Maßnahme, die aktuell ab November 2021, also frühestens in 18 Monaten geplant ist, kann doch wohl nicht ernsthaft Grund sein, in der aktuellen Krise, also jetzt, keine temporären Maßnahmen zur Einhaltung des Abstandsgebots zu ergreifen?!

Bei aktuellem Bedarf können übrigens selbst dauerhafte Radspuren temporär in Busspuren für Schienenersatzverkehr umgewidmet werden.

Sie sagen: „Außerdem dient sie auch immer wieder als Umleitungsstrecke – so in der vergangenen Woche – im Falle der Sperrung der Autobahn.“

Dieses Argument ist aus Auto-Perspektive nachvollziehbar. Wir bitten aber auch einmal die andere Perspektive einzunehmen: Wenn dann noch mehr Kfz durch das Ortsteilzentrum fahren sollen, wie kann dann erst recht der Fahrrad- und Fußverkehr sicher gemacht werden?

Vor allem aber wehren wir uns entschieden dagegen, dieses wohl wichtigste Einzelhandels-Zentrum des Bezirks und gleichzeitig Ortsteilzentrum von Tegel, wo Menschen leben, vorrangig als Umleitungsstrecke für die Autobahn zu betrachten.

Wie Sie sagen, „ist die Bezeichnung „temporäre“ Radwege irreführend, denn die Senatsverwaltung erwartet, dass dazu bereits fertige Planungen für eine dauerhafte Einrichtung von Radverkehrsanlagen vorliegen. Nur dann könnten die Pop-Up-Lanes „zunächst provisorisch“ im Sinne einer Baustelleneinrichtung den geplanten Endzustand vorwegnehmen.“

Wir stellen fest: wenn hier der Eindruck erweckt werden soll, es liege an SenUVK dass in Reinickendorf keine temporären Radverkehrsanlagen entstehen, so ist dies irreführend. Dass bei der Förderung des Fahrrad- und Fußverkehrs Reinickendorf allen anderen Bezirken weit hinterherhinkt, liegt an der Fokussierung der Bezirkspolitik auf den Autoverkehr.

Fakt ist: SenUVK hat alle Bezirke angeschrieben, gewünschte mögliche temporäre Radverkehrsanlagen anzumelden. Fakt ist auch: Eine solche Anmeldung liegt aus Reinickendorf nicht vor.

Richtig ist: Das Vorhandensein erster Planungen, wie die Berliner Straße für alle Verkehrsteilnehmer*innen dauerhaft sicher gestaltet werden kann, wäre sicher hilfreich für die Anmeldung temporärer Maßnahmen. Es ist in der Tat peinlich, wenn es in Reinickendorf bislang wirklich gar nichts gibt, worauf man aufbauen könnte.

Mit einer zunächst temporären Einrichtung kann eine Radverkehrsanlage auch erst einmal unideologisch und kostengünstig ausprobiert und verbessert werden, bevor eine dauerhafte Planung baulich umgesetzt wird.

Am Ende ist es eine Frage des politischen Willens. Wenn die Stadträtin temporäre Radverkehrsanlagen wirklich einrichten wollte, dann scheitert es bestimmt nicht an SenUVK.

Sollten Planungen für geschützte Radverkehrsanlagen zwar nicht abgeschlossen, aber immerhin begonnen sein, so tragen wir gerne zu einer zügigen Umsetzung bei. Und um scheinbare Missverständnisse auszuräumen, vermitteln wir auch gerne eine Klärung mit SenUVK.

Wer will, findet Wege. Wer nicht will, findet Gründe.

Sehr geehrte Frau Schultze-Berndt,

am Ende geht es um zwei simple Fragen:

Halten Sie den Fahrradverkehr auf der Berliner Straße in Tegel für sicher?

Auch für schwächere Verkehrsteilnehmer*innen, Kinder und Ältere?

Und wenn nein: Was planen Sie zu tun, damit sich auf der Berliner Straße nicht nur junge, gesunde und sportlich geübte, sondern wirklich alle Radfahrende sicher fühlen können?

Und was planen Sie zu tun, damit unter Corona-Bedingungen auch der Fußverkehr auf der Berliner Straße das Abstandsgebot künftig einhalten kann?

Zwischen den Extrempositionen, einerseits „kein Platz für Autoverkehr“ (was niemand fordert) und andererseits „den gesamten Platz nur für den Autoverkehr“ (also dem von Ihnen vertretenen Status quo) muss es doch einen vernünftigen Mittelweg geben. Dieser kann aus unserer Sicht nur heißen, dass alle ihren angemessenen Teil der begrenzten Fläche bekommen, um sich sicher fortbewegen zu können.

Gerne würden wir Ihnen auch vor Ort zeigen, wie das aussehen könnte.

Mit freundlichem Gruß

Eva Marie Plonske MdA (für Reinickendorf im Abgeordnetenhaus, Bündnis 90/Die Grünen)

Carsten Schulz (Sprecher ADFC Stadtteilgruppe Reinickendorf)

Maria-Anne Lamberti (ADFC Stadtteilgruppe Reinickendorf)

Mathias Adelhoefer (Sprecher Netzwerk Fahrradfreundliches Reinickendorf)

Tobias Büchner (Sprecher Initiative Zabel-Krüger-Damm)

Dr. Matthias Eigenbrodt (Mitgründer der BürgerInitiative Zabel-Krüger-Damm)

Prof. Dr. Michael Ortmann (Sprecher BI Waldseeviertel)

Felix Lederle (Vorsitzender Linksfraktion, BVV Reinickendorf)

Jens Augner (verkehrspolitischer Sprecher, Bündnis 90/Die Grünen, BVV Reinickendorf)

Helen Maruhn (Kreisvorstand Bündnis 90/Die Grünen Reinickendorf)

Heiner von Marschall (Landesvorsitzender VCD Nordost)

Katina Schubert MdA (Landesvorsitzende DIE LINKE Berlin, Wahlkreisbüro Märk. Viertel)

Robert Irmscher (Sprecher OV Nord DIE LINKE Reinickendorf)

Hinrich Westerkamp (Vorsitzender, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BVV Reinickendorf)

Elke Klünder (stv. Vorsitzende, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BVV Reinickendorf)

Cherim Adelhoefer (Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BVV Reinickendorf)

Andreas Rietz (Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BVV Reinickendorf)

Andrea Gabriele Behnke (Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BVV Reinickendorf)

Hakan Tas, MdA (DIE LINKE)

Dana Saky (Bezirksvorsitzender DIE LINKE Reinickendorf)

Klara Schedlich (Kreisvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen Reinickendorf)