Geisterrad am Volkspark Friedrichshain

Gedenken am Geisterrad am Volkspark Friedrichshain

Nochmals musste der ADFC Berlin ein Geisterrad aufstellen. Am 7. Dezember 2021 befuhr eine 58-jährige Radfahrerin die Straße Am Friedrichshain (Prenzlauer Berg) und wollte wahrscheinlich im Kreuzungsbereich mit der Friedenstraße nach links in Richtung Otto-Braun-Straße fahren. Dabei kollidierte der Sattelschlepper eines 52-jährigen Lkw-Fahrers mit der Radfahrerin auf dem mittleren Fahrstreifen, sie wurde überrollt und verstarb trotz Reanimationsversuchen noch am Unfallort.

Mit einer #VisionZero-Fahrraddemonstration, einer Mahnwache und zwei Kundgebungen gedachten der ADFC Berlin e.V. und Changing Cities e.V. der Radfahrerin.

#VisionZero-Fahrraddemonstration

Die #VisionZero-Fahrraddemonstration am 8. Dezember 2021 begann mit etwa 25 Teilnehmenden am Velokiez des ADFC in Kreuzberg. SuSanne Grittner hatte das wenige Tage zuvor in der Abendschau des RBB so erklärt: „Als letzte Reminiszenz an den Radfahrenden bringen wir das Geisterrad mit dem Lastenrad an den Ort des Unfalls.“ Mit der Demonstration bekräftigte der ADFC Berlin die Zielsetzung des Mobilitätsgesetzes, dass sich keine Verkehrsunfälle mit schweren Personenschäden ereignen dürften; die gesamte Kreuzung am Unfallort benötige eine klare Signalisierung („Pförtnerampel“) für linksabbiegenden ÖPNV und Radverkehr. Außerdem müssten Lkw endlich verpflichtend mit Technik ausgestattet werden, die tödliche Kollisionen verhindert.

Nach der Mahnwache wurde die Demonstration mit etwa 75 Teilnehmenden fortgesetzt. Wegen der Verkehrssituation an der Unfallstelle gab es eine Zwischenkundgebung vor der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz (SenUVK). Beendet wurde die Demonstration mit einer Abschlusskundgebung vor dem Bundesverkehrsministerium (BMDV), bei der noch etwa 50 Radfahrende anwesend waren.

Mahnwache und Aufstellung des Geisterrads

An der eigentlichen Mahnwache nahmen zwischen 150 (Polizeischätzung) und 250 Personen (eigene Schätzung) teil, darunter viele Nachbarn, Angehörige und Freunde sowie Musikerinnen des Frauenblasorchesters Berlin, dem die verunglückte Marlies B. angehörte. In der Gedenkrede sprach Yvonne Hagenbach (Changing Cities) den Betroffenen ihre Anteilnahme aus. Außerdem forderte sie von der Politik – namentlich von Senatorin Günther und ihrer voraussichtlichen Nachfolgerin Jarasch, die beide anwesend waren –, dass nicht mehr (nur) verhandelt werden solle, sondern gehandelt. Es gebe den „Auftrag an Verwaltung und neue Regierung, zuerst und sofort Pop-up-Radwege“ an allen Zweigen der Kreuzung einzurichten.

Geisterrad am Volkspark Friedrichshain Mahnwache mit Sen. Günther und Jarasch

Leider hat Yvonne durch seltsame Aussagen die Wirkung ihrer Rede stark beeinträchtigt. „Im Verkehr zu Tode zu kommen ist eine der häufigsten Todesursachen“ – wie bitte? Bei jährlich etwa 3 000 Verkehrstoten in Deutschland passt das überhaupt nicht im Vergleich beispielsweise zu 338 001 Todesfällen durch Herz-/Kreis­lauferkrankungen, 39 758 Covid-19-Toten oder 9 206 Suiziden. Auch wenn im laufenden Jahr 3 Personen an diesem Verkehrsknoten oder in seiner Nähe zu Tode gekommen sind, hat das allenfalls am Rand mit mangelhafter Infrastruktur zu tun: eine Radfahrerin wurde höchstwahrscheinlich von einem unachtsamen Lkw-Fahrer tödlich verletzt; ein Fußgänger hat (50 m von der Kreuzung entfernt) vermutlich ungenügend auf den Kraftverkehr geachtet. Trotz der Unübersichtlichkeit des ganzen Kreuzungsbereichs zählt der Knoten nicht zu den Unfallschwerpunkten.

Geisterrad am Volkspark Friedrichshain mit großer Beteiligung

Nach der Ansprache gedachten die Anwesenden mit einigen Schweigeminuten der Getöteten. Anschließend stellten SuSanne Grittner (ADFC) und Kerstin Leutloff (Changing Cities) das Geisterrad auf. Mit einem Erinnerungsbild, Blumen und Kerzen gaben die Anwesenden ihrer Trauer Ausdruck.

Beteiligung der Senatsverwaltung

Auch wenn der genaue Ablauf des Unfalls und seine Ursache nicht klar sind, spricht einiges dafür, dass fehlende Radverkehrsanlage und unzureichende Ampelschaltungen dazu beigetragen haben. Eine Petition aus dem Jahr 2020, die ausdrücklich eine bessere Schaltung einer „Pförtnerampel“ zugunsten des Radverkehrs anstrebte, wurde von SenUVK abgelehnt. Diese Ablehnung und die vielen unübersichtlich verlaufenden Fahrstreifen an diesem Verkehrsknoten betonen die Zuständigkeit der Senatsverwaltung für Verbesserungen. Deshalb führte die #VisionZero-Demo mit einer Zwischenkundgebung dort vorbei.

Susanne Jäger (Sprecherin der ADFC-Stadtteilgruppe Pankow) beklagte, dass der Umbau im Verkehr nicht schnell genug gehe. Dieser Verkehrsknoten stammt aus einer Zeit, in der „sich ‚Flüssigkeit des Verkehrs‛ ausschließlich auf den ungestörten Fluss des Motorisierten Individualverkehrs und u. U. noch des ÖPNV bezogen hat und es Radfahrenden schwer“ gemacht wurde, sicher und zügig voranzukommen. „Vielleicht hätte eine Pförtnerampel, die auch Radfahrenden ein entspannteres Einfahren in die komplexe Verkehrssituation ermöglicht, vor diesem Unfall helfen können.“ Eine solche Maßnahme müsse schnell geprüft und umgesetzt werden.

Sen. Günther äußert sich bei der Zwischenkundgebung

Auch Senatorin Günther war zu einer öffentlichen Äußerung bereit. Neben dem Hinweis auf die unterschiedlichen Ursachen der tödlichen Unfälle sprach sie von Planungen in der Verwaltung, die zur Verbesserung der Sicherheit vorbereitet würden, und lud Vertreter:innen von ADFC und Changing Cities ein, diese vorzustellen. Dieses Gespräch fand im Anschluss an die Kundgebung statt.

Forderung an das Verkehrsministerium

Bei Beteiligung eines Lkws endet die #VisionZero-Demo meistens am Bundesverkehrsministeriums, so auch diesmal. SuSanne Grittner erklärte dem neuen Minister Volker Wissing (FDP), der genau an diesem Tag sein Amt angetreten hatte, warum der ADFC hier auftritt. Sie verwies auf die tödlichen Kollisionen von Fußgänger:innen und Radfahrenden mit Kraftfahrzeugen – in Berlin 5 bis 15 Radfahrende pro Jahr, 30 bis 50 % davon Kollisionen mit Lkw. Die EU-Verpflichtung zur Einführung von Abbiege-Assistenzsystemen, die ab 2022 gilt, reiche aber nicht, weil sie nur für neue Typ-Zulassungen gilt. Stattdessen müsse es verpflichtende Maßnahmen zur Nachrüstung aller Lkw in Deutschland geben, ohne auf die EU zu warten. SuSanne mit einer direkten Aufforderung an den Minister: „Das ist Ihre Aufgabe: Menschenleben im Verkehr retten! Daran werden wir Sie messen!“

ADFC-Forderungen an den Verkehrsminister

Mit einem Dank an die Anwesenden für ihre Teilnahme „trotz der Kälte“ und an die Polizei für die sichernde Begleitung beendete SuSanne die Demonstration und die Kundgebung.

Verkehrssituation am Unfallort

An der Unfallstelle weitet sich die Straße Am Friedrichshain von zwei auf vier Fahrstreifen vor der Greifswalder Straße auf; hinzu kommen zwei (von drei) Fahrstreifen aus der Friedenstraße. Der rechte Fahrstreifen Am Friedrichshain ist eine Busspur, freigegeben für den Radverkehr. Die Mehrzahl der Radfahrenden aus dieser Richtung will nach links in die Otto-Braun-Straße und nutzt bevorzugt eine der Linksabbiegerspuren. Die Busspur ist mit einer separaten Ampel versehen; auch eine Ampel für den Radverkehr ist als Pförtnerampel damit verbunden. – Eine Bürgerinitiative aus dem Bötzowkiez hatte in einer Petition am 11.08.2020 u.a. eine bessere Schaltung für diese Pförtnerampel gefordert; SenUVK hat dies abgelehnt und dabei teilweise Argumente vorgebracht, die mit den Beobachtungen „vor Ort“ nicht zusammenpassen.

Luftbild der Unfallstelle

Luftaufnahme der Unfallstelle (Quelle: Geoportal Berlin [DOP20RGBI 2021])

Ein Teil der Radfahrenden nutzt statt der Busspur den Fahrstreifen des „normalen“ Kraftverkehrs, um die Linksabbiegerspur ohne Fahrstreifenwechsel zu erreichen. Dies wäre eine Erklärung dafür, dass die hier getötete Radfahrerin auf dem mittleren Fahrstreifen überrollt wurde und der Lkw nach dem Unfall rechts von ihr zum Stehen kam. Nach Presseberichten und Twitter-Meldungen wurde auch untersucht, wo und wie der Lkw die Radfahrerin getroffen hat.

Die Unfallstelle am Volkspark Friedrichshain

Klar ist jedenfalls: Die Aufteilung der Fahrstreifen und die Markierungen für die Fahrtrichtungen berücksichtigen fast ausschließlich den Kraftverkehr. Der Radverkehr wird mit Radstreifen nur im Zuge von Greifswalder Straße und Otto-Braun-Straße beachtet; an den übrigen Zufahrten gibt es nur vorgezogene Haltelinien.

Sofortmaßnahmen oder geprüfte Dauerlösung

Natürlich gelten die Verkehrsregeln auch für den Radverkehr; Radeln auf dem Gehweg ist unzulässig. Es zeigt dennoch ein schiefes Bild und falsche Prioritäten, wenn wenige Tage nach diesem tödlichen Unfall die Polizei genau an dieser Stelle mit Verkehrskontrollen gegen Gehweg-Radler:innen aktiv wird. Inzwischen wird sogar von einer Polizeikontrolle berichtet, bei der das korrekte Abbiegen von Radfahrenden über die Linksabbiegerspuren als Ordnungswidrigkeit geahndet wurde.

§ 21 „Besondere Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit“ im MobG BE fordert u. a.:

(1) Anzustreben ist eine selbsterklärende und verkehrssichere Verkehrsinfrastruktur, die regelkonformes Verhalten fördert und voraussetzt.
(2) Nach jedem Unfall mit Verkehrstoten an einem Knotenpunkt soll von der für Verkehrssicherheit im betreffenden Fall zuständigen Stelle unverzüglich geprüft werden, ob Maßnahmen kurz-, mittel- und langfristig ergriffen werden können, um weitere Unfälle mit Personenschaden zu vermeiden…

Insofern ist es zu begrüßen, dass die bisherige Senatorin und die Abteilung Verkehrsmanagement von SenUVK noch für den Abend von Mahnwache und #VisionZero-Demo Planungen für die Unfallkreuzung vorstellten. Hauptsächlich entsprachen sie den Ideen von Changing Cities, an allen Zweigen Radverkehrsanlagen (RVA) bis zur eigentlichen Kreuzung weiterzuführen und zwar nicht nur als Ad-hoc-Maßnahme, sondern dauerhaft. Eine grundlegende Umgestaltung des Knotens sei dagegen nicht geplant.

Andererseits bleiben im Zusammenhang mit einer solchen Einzelmaßnahme viele Fragen offen: Wird das Linksabbiegen sicherer? Wie kann die Sicherheit des Radverkehrs geradeaus gegenüber dem rechtsabbiegenden Kraftverkehr gewährleistet werden? Auch Radfahrende haben ein Recht darauf, einen solchen Knoten sicher und zügig zu queren. Im Hinblick auf die Größe und Komplexität des Kreuzungsbereichs müssen alle Markierungen und Ampelschaltungen untersucht und ggf. angepasst werden. Die „autogerechte Stadt“ ist nicht mehr zeitgemäß.

Aber die Erfahrungen mit der Verkehrsplanung zeigen: Wenn eine Teilmaßnahme umgesetzt wird, müssen wir mit diesem Zustand möglicherweise 20 bis 30 Jahre leben, völlig unabhängig von der Entwicklung des Radverkehrs. Das darf nicht das Fazit nach diesem Unfall werden.

Jürgen Thomas

Weitere Hinweise

Bei der Radfahrerin handelt es sich um die 10. getötete Radfahrende in diesem Jahr.

Getötete Radfahrende 2021: www.geisterraeder.de

Polizeimeldung Nach Verkehrsunfall – Frau am Unfallort verstorben

ADFC-Forderungen zur Verhinderung von tödlichen Lkw-Unfällen

Bericht in der RBB-Abendschau (21.11.2021): Gedenken an Unfallopfer (Video 3:48 min, verfügbar bis 21.11.2022 um 23:59 Uhr)

Hinweise zu einer Mahnwache im Zusammenhang mit einer Geisterradaufstellung


Statistisches Bundesamt: Häufigste Todesursachen 2020 (Pressemitteilung Nr. 505 vom 4. November 2021)

Verkehrstote in Deutschland (Wikipedia-Artikel mit der Entwicklung der Zahlen)

Erklärung einer Unfallhäufungsstelle

Darstellung der polizeilich erfassten Unfälle mit Personenschaden im Unfallatlas des Statistischen Bundesamtes (für Berlin ab 2019 vorhanden)

Bildnachweis:
• Luftbild aus FIS-Broker – Digitale farbige Orthophotos 2021 (DOP20RGBI) gemäß Datenlizenz Deutschland
• ADFC Berlin – Susanne Jäger (Unfallstelle), Eberhard Brodhage (alle weiteren) – Verwendung der ADFC-Fotos unter Beachtung der DSGVO und mit Quellenangabe